Wie normativ ist Sprache? Der Richter zwischen Sprechautomat und Sprachgesetzgeber
Abstract
1. Die juristische Sprachtheorie
Juristen entscheiden Konflikte. Was kann die Sprache dazu beitragen? Um diese Frage zu beantworten produzieren Juristen eine starke, und um deren Scheitern zu bewältigen, eine schwache Sprachtheorie. Ersterer zufolge gibt die Sprache des Gesetzes dem Richter die Entscheidung im Einzelfall vor. Semantik, in Gestalt eines feststehenden Gehalts seines fungiert so zugleich als Legitimation juristischen Handelns. Sprache ist demnach normativ im Sinne von rechtsnormerzeugend.
Das Scheitern dieses Modells an der Praxis führt zu einer schwachen Sprachtheorie. Recht lässt sich eben doch nicht so ohne weiteres dem Gesetzeswort entnehmen. Es bedarf eines ganzen Verfahrens, des Austauschs der Argumente der Beteiligten, sowie einer umfänglichen Kritik durch Instanzen, Wissenschaft und Literatur, um darauf zu kommen. Nicht die Sprache ist normativ. Es sind vielmehr die Sprecher, deren Ambitionen normativ sind, in dem sie ihre Lesart des Gesetzes durchsetzen wollen.
2. Sprache als Lieferant von Normativität
Das Bemühen um eine juristische Sprachtheorie ist aus der praktischen Entscheidungsnot des Richters geboren. Im Gewoge des Rechtsstreits soll der semantisch stabile Gehalt des Gesetzes eine Zuflucht bieten, die dem Richter seine Entscheidung vorzeichnet. Die Sprache hier zum Subjekt des Rechts und zur Quelle der Normativität.
Dieser Bedeutungspositivismus scheitert an der Unentschiedenheit von Sprache in der Praxis. Die Situation rechtlicher Entscheidung ist nicht, wie die Theorie behauptet, die des Mangels an Bedeutung, sondern die eines unabsehbaren Überflusses daran. Dennoch muss der Richter nicht nur entscheiden. Er darf zudem diese Entscheidung über Bedeutung nicht willkürlich treffen, indem er an das Gesetz gebunden ist. Erleichterung verspricht hier die "Gebrauchstheorie der Bedeutung". Mit der Sprachregel im Rücken soll sich der Richter an das kritische Geschäft machen können darüber zu befinden, inwiefern die Äußerungen im Verfahren einer möglichen Verwendungsweise des Gesetzes als Ausdruck von Recht liegen und ihn so in die Lage versetzen, die Abweichungen vom konformen Gebrauchs zu trennen, um dementsprechend sein Urteil zu fällen. Im semantischen Kampf des Rechtsstreits geht es den Parteien aber nicht darum, was der Regel gemäß ist, sondern darum, was als Regel gelten soll. Als unabhängige Berufungsinstanz für die Entscheidung kann die Regel so aber nicht mehr greifen. Sie steht als Regel auf dem Spiel.
3. Sprache als Medium von Normativität
Der semantische Normativismus scheitert an den Unwägbarkeiten von Sprache als Praxis. Eine Norm, bzw. Regel vermag nicht eindeutig und unwiderruflich vorzuzeichnen, was in jedem Einzelfall ihre Befolgung ist. Jede Abweichung ist kreativ und kann als Vorschlag einer neuen Regel gesehen werden. Mit der praktischen Instabilität des Regelhaften bricht der juristischen Praxis Sprache als objektiver Erkenntnisgegenstand und Legitimationsinstanz weg. Normativität kann nie eine der Sprache, sondern immer nur eine in ihr sein. Sprachnormen stellen interpretative Konzepte der Sprachpraxis dar und dienen den Zwecken der Vereinfachung und Stabilisierung von Kommunikation. Für Juristen allerdings nimmt die Frage einer Normierung von Sprache eine weitaus schärfere Gangart an. Im Gerichtsverfahren stehen sich zwei Versuche zur Instituierung sprachlicher Normativität unversöhnlich gegenüber. Die juristisches Arbeit besteht in der Entscheidung von Bedeutungskonflikten zur Festlegung auf Sprachnormen. Die deuten damit auf legitimatorische Standards und müssen angesichts der Vielfalt und Divergenz des Sprachgebrauchs immer wieder gesetzt und auch durchgesetzt werden. Das Normativitätsproblem verweist auf eine Praxis des Forderns und Lieferns von Gründen.
4. Die richterliche Kompetenz zur Entscheidung von Sprachkonflikten
Die juristische Entscheidung vollzieht sich im sozialen Raum eines diskursiven Verfahrens. In ihm geht es um einen Konflikt sich ausschließender Lesarten desselben Gesetzes. Es geht somit nicht um die Auffindung einer Sprachregel, sondern um eine Sprachnormierung. In der Frage der Legitimität einer Entscheidung über die widerstreitenden Lesarten liegt genau auch der Ansatzpunkt der verfahrensbezogenen Normen aus dem Umkreis des Rechtsstaatsprinzips. Das Rechtsstaatsprinzip kann als ein kodifizierter Sonderfall kommunikativer Ethik angesehen werden. Es kodifiziert eine bestimmte Kultur des Streitens, welche im juristischen Bereich durch Rechtsprechung und Lehre eine spezifische Ausprägung erfahren hat. Der Richter muss sein Interpretationsergebnis in der Urteilsbegründung rechtfertigen. Die Begründung ist damit nicht an der Akzeptanz der Beteiligten orientiert, dem bloßen Meinungsstand. Sie ist vielmehr orientiert am Stand der Argumente, das heißt, der Geltung.
An die Stelle der Analyse der juristischen Sprachtheorie muss die Analyse juristischer Sprachpraxis treten. Sprache bleibt als widerständiges und sperriges Material juristischer Arbeit virulent.