Prof. Dr. Dietrich Busse (Köln)

Bedeutungsfeststellung, Interpretation, Arbeit mit Texten? Juristische Auslegungstätigkeit in linguistischer Sicht

Abstract

Dass Recht eine auf Sprache (Wörter/Begriffe, Texte) gegründete, vorwiegend mit und in Sprache arbeitende Institution ist, ist ebenso Gemeinplatz wie (eben darum?) lange Zeit kaum Gegenstand intensiverer sprachwissenschaftlicher Forschung geworden. Zudem ist die traditionelle linguistische Betrachtungsweise der Sprache im Recht mit Mißverständnissen belastet, die die Rechtssprache (und Rechtstexte) und ihre Funktion in irreführendem Licht erscheinen lassen. Solche Fehldeutungen werden überdies noch befördert durch die in der Rechtswissenschaft entwickelten Selbstdeutungen der juristischen Spracharbeit als "Auslegung", welche nur dem Wortlaut nach Vergleichbarkeiten mit einem alltagssprachlichen Verständnis von "Interpretation", "Bedeutungsfeststellung" usw. suggerieren.

Tatsächlich stellt sich die juristische Arbeit mit Gesetzestexten nach einer sich an den wirklichen Arbeitsvorgängen orientierenden linguistischen Analyse aber als komplexe Arbeit der Vernetzung von Textelementen, Sachverhaltselementen (die selbst wiederum nur in rechtlich konstituierter Form eine Rolle spielen), interpretationsdogmatischen Elementen und juristischen Wissenselementen im weitesten Sinne dar, die herkömmliche linguistische, verstehenstheoretische und interpretationstheoretische Begriffe wie "Bedeutung", "Referenz", "Extension", "Bedeutungsfeststellung/-beschreibung", "Textverstehen", "Textinterpretation" sprengt. Erforderlich ist daher die Entwicklung einer linguistischen Begrifflichkeit und sprachtheoretischen Modellierung, welche den spezifischen institutionellen Charakter der juristischen Arbeit mit Gesetzestexten adäquat zu erfassen erlaubt.

Ausgehend von einer knappen Beschreibung der wichtigsten Kernelemente der juristischen Auslegungslehre soll im Vortrag an einem Beispiel aus dem Strafrecht (Auslegung des Diebstahlparagraphen § 242 des Strafgesetzbuches) und einem Beispiel aus dem Zivilrecht (Mängelhaftung beim Gebrauchtwagenkauf) die Komplexität der juristischen Arbeit mit Gesetzestexten (die üblicherweise sehr unzureichend als "Auslegung und Anwendung" bezeichnet wird) demonstriert werden. Stellvertretend für ein zentrales Konzept der linguistischen Bedeutungstheorie soll hier der Begriff "Referenz" (Gegenstandsbezug als Kernbestandteil von Wort-/Textbedeutungen) als Leitlinie der linguistischen Fragerichtung/Problematisierung dienen, indem zum einen gezeigt wird, wie (vielstufig) vermittelt sich die Beziehung "Normtext/Normbegriff - Sachverhaltselement" in der Praxis darstellt, und indem zum anderen demonstriert wird, wie hochgradig vernetzt und komplex die für eine konkrete Fallentscheidung notwendige Normtextmenge (Juristen sprechen hier stark beschönigend von der "Herstellung eines Obersatzes") schon bei einem einfachen Standardsachverhalt sein kann (tatsächlich sind es über 30 Paragraphen und Textelemente, die für die Falllösung herangezogen werden müssen). Für die adäquate linguistische Beschreibung der semantischen Vernetzung dieser vielzahligen Text- und Sachverhaltselemente eignet sich besonders der in der jüngeren Textlinguistik und kognitiven Semantik entwickelte Begriff "Wissensrahmen" (frame). Deutlich wird, dass im Falle der juristischen Gesetzesauslegung und -anwendung die Komplexität und Vernetzung der verstehensrelevanten Wissensrahmen Ausmaße annimmt, welche jeden üblichen (linguistischen wie alltagsweltlichen) Begriff von "Wortbedeutung" bzw. "Textbedeutung" sprengt. Wenn es die Zeit erlaubt, sollen einige Überlegungen zum spezifischen institutionellen Charakter der juristischen Textarbeit den Vortrag abschließen.