Vortrag im Rahmen des internationalen Gästeforums am 15.11.2023

Geschwisterrivalität: Wie viel Kampf ist normal?

Noch einmal zum schwierigen Verhältnis von Sprachwissenschaft und Sprachdidaktik am Beispiel der Germanistischen Linguistik und der DaF-Didaktik

Prof. Dr. Magdalena Thien
Uniwersytet w Białymstoku (Polen)

Komplizierte Beziehungen, Akzeptanzkrisen und Anerkennungsdefizite sind nicht nur unsere Domäne. Auch einzelne Wissenschaften tun sich schwer in der Beziehung zu ihren Nachbarschaftsdisziplinen, was die Bearbeitung von fachübergreifenden interdisziplinären Frage- und Problemstellungen in Forschung und Lehre erschweren kann. So erkennt man auch bei der Sprachwissenschaft und der Sprachdidaktik, zwei eng verwandten Disziplinen, ein spannungsvolles und distanziertes Verhältnis, das sich u.a. an konzeptuell naiven oder einfach behaupteten interdisziplinären Abhängigkeiten ablesen lässt, die oft zu wissenschaftsmethodischen Fehlgriffen und folglich zu reduktionistischen Konzepten des Lehrens und Lernens von fremden Sprachen führen.

Im Vortrag wird dieses ungleiche und schwierige Verhältnis beleuchtet, mit dem Ziel die jeweiligen Gründe für gegenseitige Ressentiments herauszustellen und Perspektiven für ein besseres Miteinander nachzuzeichnen. In Anlehnung an die Geschwistermetapher werden einige Überlegungen zum sensiblen Miteinander der beiden Disziplinen angestellt. Da ein tieferes Verständnis der Dynamik der problematischen Beziehungen nicht nur eine synchronische sondern auch eine diachronische Perspektive erfordert, wird auch ein Rückblick in die Geschichte des fachlich-wissenschaftlichen Selbstverständnisses vorgenommen, um die dominierenden Auffassungen zum Miteinander der Disziplinen in der Vergangenheit und Gegenwart herauszustellen. Die meisten Spannungen sowohl in zwischenmenschlichen Beziehungen als auch im interdisziplinären Dialog sind bekanntlich auf gegenseitige Schnittstellen und Überlappungen zurückzuführen. Daher wird Sprache als gemeinsamer Forschungsgegenstand der beiden Disziplinen beleuchtet, wobei die anders motivierten und akzentuierten Sprachbeschreibungen der beiden Disziplinen als Quelle jeglicher Spannungen herausgestellt werden. Zum Schluss werden einige Perspektiven und Handlungsempfehlungen für die Sprachdidaktik nachgezeichnet, welche zur ihrer deutlicheren Profilierung und damit Wertschätzung und Respektierung als eigenständige Wissenschaftsdisziplin beitragen sollen.

Zur Person:

Magdalena Thien studierte Germanistik an der Adam-Mickiewicz-Universität in Poznań (Polen) und der Universität Potsdam. 2005 schloss sie an der Universität Poznań ihr Promotionsstudium mit der Dissertation zu Stereotypen und Affektivität im interkulturellen Fremdsprachenunterricht ab. 2016 wurde sie mit der Schrift Gesprochene Sprache in der philologischen Sprachausbildung. Theoretische Grundlagen – Empirische Befunde – Exemplarische Anwendungen an der Universität Olsztyn habilitiert. Seit 2020 ist sie Professorin für Germanistik am Lehrstuhl für Lexikologie und Pragmalinguistik an der Universität in Białystok (Polen). Ihre Forschungsschwerpunkte sind gesprochenes Standarddeutsch in sprachwissenschaftlicher und sprachdidaktischer Perspektive, interkulturelle Kommunikation sowie metafachliche Diskussionen und Schnittstellen der Sprachwissenschaft und Sprachdidaktik.

Im Rahmen eines DAAD-Forschungsstipendiums ist sie vom Oktober bis Dezember 2023 Gastwissenschaftlerin am Leibniz-Institut für Deutsche Sprache Mannheim.

Publikationen:

  • Pieklarz-Thien, M. 2018: „Von der disziplinären Abhängigkeit zum gleichberechtigten Miteinander? Eine Diskussion über das sensible Verhältnis von Sprachwissenschaft und Sprachdidaktik am Beispiel der Germanistischen Linguistik und der DaF-Didaktik“, in: Glottodidactica, 45/1, 115-130.
  • Pieklarz-Thien, M. 2020: „Zum Ertrag der germanistischen Sprachwissenschaft für die germanistische DaF-Didaktik in Polen: Der sprachliche Lerngegenstand Gesprochenes Standarddeutsch“, in: Studia Germanica Gedaniensia, 43, 112-123
  • Pieklarz-Thien, M. 2020: „Sprache als Forschungs- und Lehr/-Lerngegenstand. Eine Diskussion über die Divergenz zwischen der linguistischen und didaktischen Sprachauffassung und ihre Konsequenzen im germanistischen Deutschunterricht im Ausland“, in: Deutsch als Fremdsprache. Zeitschrift zur Theorie und Praxis des Faches Deutsch als Fremdsprache, 4, 219-231.
  • Pieklarz-Thien, M. 2020: „Sprechen Deutsche korrektes Deutsch?“ – Rekonstruktion der Lernerperspektive auf den mündlichen Sprachgebrauch deutscher Muttersprachler anhand einer Inhaltsanalyse eines Internet-Diskussionsforums. In: Pieklarz-Thien, M./ Chudak S. (Hg.): Die Lernenden in der Forschung zum Lehren und Lernen fremder Sprachen. Frankfurt am Main: Peter Lang, S. 57-82.
  • Pieklarz-Thien, M. 2021: „Gesprochenes Standarddeutsch – Annahmen und Grundlagen zur Vermittlung eines komplexen sprachlichen Lerngegenstandes im germanistischen DaF-Unterricht in Polen“, w: Günthner, S./ Schopf, J./ Weidner, B. (Hg.): Gesprochene Sprache in der kommunikativen Praxis. Analysen authentischer Alltagssprache und ihr Einsatz im DaF-Unterricht. Tübingen: Stauffenburg, 67-86.
  • Pieklarz-Thien, M./ Chudak, S. (Hg.) 2022: Wissenschaften und ihr Dialog. Exkurse zur Erforschung des Lehrens und Lernens fremder Sprachen. Vandenhoeck & Ruprecht Verlage, S. 333.