Pressemitteilung, 20. Januar 2006

"Hitler war allein schuld" - Neue Publikation zum Nachkriegs

"Der Schulddiskurs in der frühen Nachkriegszeit. Ein Beitrag zum sprachlichen Umbruch nach 1945" lautet die jüngst veröffentliche Publikation von Dr. Heidrun Kämper, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Deutsche Sprache (IDS) in Mannheim. Die Untersuchung entstand als Ergebnis eines Forschungsprojektes am Institut für Deutsche Sprache, der zentralen außeruniversitären Einrichtung zur Erforschung und Dokumentation des Deutschen im gegenwärtigen Gebrauch und in der neueren Geschichte.

Sie beantwortet die Frage, wie in der deutschen Nachkriegszeit bis 1955 über die Schuld der Deutschen geredet wurde. Dieser so genannte Nachkriegsdiskurs wird nach den drei Sprecherperspektiven Opfer, Täter und Nichttäter unterschieden und wird als Umbruch der deutschen Sprachgeschichte des 20. Jahrhunderts bewertet.

Zum ersten Mal ist im Neuhochdeutschen überhaupt ein solcher Diskurs nachweisbar. Denn mit dem Nationalsozialismus sind bis dahin unbekannte Schuldarten entstanden (staatlich befohlene Diskriminierung, Verfolgung, systematische Massenvernichtung von Menschen). Neu ist auch, dass sich an diesem Diskurs eine Gemeinschaft beteiligt, die nach ethisch-moralischen bzw. rechtlichen Kategorien unterscheidbar ist: Opfer, Täter, Nichttäter. Unter diesen Voraussetzungen stellen die sprachlichen Erscheinungen dieses Diskurses einen linguistischen Umbruch dar.

Der Beitrag der Opfer besteht in der Dokumentation der Gewalt, die sie in Konzentrationslagern und in Zuchthäusern erfuhren. Es sind Wörter wie Auschwitz, Gaskammer, Stacheldraht, Krematorium, Selektion, Transport, die die Gewalt des Nationalsozialismus dokumentieren und die Elemente der deut-schen Sprache sind, seit die Opfer nach ihrer Befreiung 1945 über ihre KZ- und Zuchthauserfahrung berichten.

Der Beitrag der Täter besteht in Strategien der Schuldabwehr und der Rechtfertigung. Sie müssen sich vor Gerichten, z.B. dem Nürnberger Tribunal, für ihre Taten rechtfertigen. Da sie sich als zu Unrecht angeklagt verstehen, entsprechen ihre sprachlichen Äußerungen bestimmten argumentativen Strategien, die bis heute bekannt sind und die 1945 ihren Anfang nahmen: Sie deuten um (z.B. Sonderbehandlung oder Ausrottung), sie idealisieren ihr Wollen (Kampf für die Freiheit und die Ehre meines Vaterlandes), sie spielen ihr Handeln herunter (Wir übersahen, dass Hitler nach unbeschränkter Macht strebte), sie erheben Gegenklage (Hitler war allein schuld).

Die Nichttäter tragen zum Schulddiskurs bei durch die Konstruktion einer Wunschidentität und die Demontage einer ihnen von der Welt zugeschriebenen Identität. Der Schulddiskurs der Nichttäter ist eine vehemente Auseinandersetzung mit dem vermeintlichen Kollektivschuldvorwurf. Diesen Vorwurf weisen sie zurück und entwickeln einen eigenen Schuldbegriff. Dabei setzen sie die Schuld der Deutschen voraus, um sie aber gleichzeitig als Volk zu beschreiben, das anschlussfähig und wieder integrierbar in die Völkergemeinschaft ist. Dazu unterscheiden sie z.B. zwischen wirklich Schuldigen, ihrer eigenen Schuld, die sie als Versagen verstehen, und der Schuld des deutschen Volkes insgesamt, die sie als schuldig gemacht beschreiben. Außerdem kennzeichnet den Schulddiskurs der Nichttäter eine intensive Analyse nationaler Stereotype (Idealismus, Militarismus, politische Unmündigkeit). Mit diesen liefern die Nichttäter die Erklärung dafür, dass der Nationalsozialismus für zwölf Jahre deutsche Wirklichkeit war. Diese Stereotype werden argumentativ derart bewertet, dass die Nichttäter sie als zeitlich bedingt beschreiben. Gegenübergestellt werden ihnen die Werte des wahren Deutschtums, die Gesetze unseres Werdens, die während der zwölf Jahre lediglich verschüttet waren.

Alle drei Diskurse beziehen sich auf denselben Gegenstand, untereinander aber sind sie in keiner Weise vergleichbar. Denn jede der Sprechergruppen nimmt eine eigene Perspektive ein und verfolgt ein eigenes Ziel, vor dem Hintergrund eigener Erfahrung. Alle drei Diskurse tragen je spezifisch zu dem sprachlichen Umbruch nach 1945 bei.

Das IDS ist Mitglied der Leibniz- Gemeinschaft. Zur Leibniz-Gemeinschaft gehören 84 außeruniversitäre Forschungsinstitute und Serviceeinrichtungen für die Forschung. Jedes Leibniz-Institut hat eine Aufgabe von gesamtstaatlicher Bedeutung. Bund und Länder fördern die Institute der Leibniz-Gemeinschaft daher gemeinsam. Die Leibniz-Institute beschäftigen rund 12.500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und haben einen Gesamtetat von 950 Millionen Euro. Näheres unter http://www.leibniz-gemeinschaft.de.

Heidrun Kämper (2005): Der Schulddiskurs in der frühen Nachkriegszeit.
Ein Beitrag zum sprachlichen Umbruch nach 1945. Berlin, New York: Walter de Gruyter.
ISBN 3-11-018855-4