Brief des Direktors des IDS, Prof. Dr. Gerhard Stickel, an den Berliner Innensenator Dr. Eckhart Werthebach vom 29. Januar 2001
Sprachschutzgesetz - Entwicklung der deutschen Sprache
Sehr geehrter Herr Senator,
die "Berliner Zeitung" berichtet heute von Ihrer Forderung nach einem gesetzlichen Schutz der deutschen Sprache und dem Vorschlag, eine Institution einzurichten, die staatlich gefördert werden müsse und deren Mitarbeiter in der Lage seien, Begriffe aus anderen Sprachen zu übersetzen.
Ihre Äußerungen, soweit sie korrekt wiedergegeben sind, verstehe ich in erster Linie als deutliches Zeichen für ein sich in der Politik verstärkendes Sprachbewusstsein und damit auch ein Gespür für Loyalität zur eigenen Sprache, mit der viele Deutsche seit dem Kriegsende Schwierigkeiten haben.
Erlauben Sie mir aber bitte den Hinweis, dass Sprachpolitik und Sprachpflege gerade in Deutschland schwierige und heikle Geschäfte sind, besonders auf dem Hintergrund der problematischen Geschichte des Sprachpurismus im 19. Jahrhundert und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Ich teile Ihren Ärger über viele der Anglizismen und Pseudoanglizismen, denen wir tagtäglich in der Berufs- und Warenwelt begegnen. Diese lästigen, oft auch albernen Ausdrücke sind jedoch in erster Linie symptomatisch für Einstellungen und Absichten, mit denen Sprache nur oberflächlich zu tun hat. (Viele dieser verbalen Schmetterlinge werden im Übrigen schon diesen Winter nicht überleben). Mit Sprachgesetzen und Verdeutschungsangeboten ist den Motiven für den Gebrauch von Anglizismen kaum beizukommen.
Eine ganz Deutschland umfassende Repräsentativerhebung, die wir vor knapp drei Jahren durchgeführt haben, ergab, dass mehr als die Hälfte der Deutschen (56,4%) an sprachlichen Fragen wenig oder gar nicht interessiert ist. Andererseits nannten die meisten der sprachinteressierten Probanden Anglizismen als Beispiele für unliebsame Sprachveränderungen. Wirkungsvoller als Sprachreinigungsgesetze (mit denen man in Frankreich und Polen nicht nur gute Erfahrungen macht) ist es deshalb, in Schulen, Weiterbildungseinrichtungen und in der Öffentlichkeit ein größeres Interesse an Sprache, besonders an der eigenen Sprache zu wecken, natürlich auch durch praktische Sprachkritik, die sich aber weniger mit unliebsamen Wörtern als mit den Motiven für ihren Gebrauch auseinandersetzen sollte.
Im Übrigen gibt es sprachpolitische Fragen und Aufgaben, deren Bearbeitung wichtiger ist als die Auseinandersetzung mit Anglizismen in der Werbesprache und einzelnen Fachsprachen. Das größte sprachpolitische Problem ist derzeit die sprachliche Situation und Zukunft Europas. Die kulturelle und gesellschaftliche Vielfalt Europas ist wesentlich sprachlich basiert, beruht auf seiner sprachlichen Vielfalt. Diese Vielfalt, zu der eben auch die deutsche Sprache gehört, ist längerfristig keineswegs gesichert, zumal es für eine solche Sicherung noch kein schlüssiges politisches Konzept gibt.
Die Beteiligung Deutschlands an der Erarbeitung eines solchen Konzepts und dessen Umsetzung leidet an zwei Mängeln: Zum einen ist die sprachpolitische Willensbildung wegen der komplizierten föderalen Zuständigkeiten sehr schwierig und langwierig. Zum anderen fehlt es tatsächlich an einer zentralen wissenschaftlichen Instanz, die auch der Sprachpolitik zuarbeiten könnte. Die zentrale Forschungseinrichtung für die deutsche Sprache, nämlich unser Institut, hat ausschließlich Aufgaben der wissenschaftlichen Beschreibung und Dokumentation des Deutschen. Sprachberatung und Sprachpflege gehören nicht zu unserem Satzungsauftrag. Andere Institutionen, darunter die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung (Darmstadt) und die Gesellschaft für deutsche Sprache (Wiesbaden), betreiben zwar Sprachkritik, haben aber vor allem Sprachlaien als Mitglieder und keine nennenswerte Forschungskapazität.
Wenn nun nach Ihrem Vorschlag eine weitere Institution eingerichtet würde mit der Hauptaufgabe, fremdsprachliche Ausdrücke (nicht Begriffe) zu verdeutschen, würde dies die institutionelle Sprachforschungs- und Sprachpflegelandschaft nur noch komplizierter und unübersichtlicher machen, als sie schon ist. Zweckmäßiger und ökonomischer wäre es deshalb, das Aufgabenspektrum bestehender Institutionen zu erweitern. Listen mit Verdeutschungen von Anglizismen wäre eine relativ überschaubare Aufgabe. Wichtiger und dringender wären aber Forschungen zu den Motiven und Wirkungen des Anglizismengebrauchs und zur europäischen Sprachensituation und ihrer absehbaren Entwicklung.
Eine entsprechende Anregung des Berliner Innensenators an die KMK und das Bundesministerium für Bildung und Forschung bliebe vermutlich nicht ohne Resonanz.
Mit freundlichen Empfehlungen
Prof. Dr. Gerhard Stickel
Eine Antwort des Senators steht bis heute noch aus.