Einführungsrede zur Ausstellung:

Schrift malen Bilder schreiben

Dr. Hans Gercke, Ellis Neu und Sonja Scherer (v.l.n.r.)

Arbeiten von Sonja Scherer und Ellis Neu

Einführungsrede zur Ausstellungseröffnung am 15. November 2006 von Dr. Hans Gercke


Liebe Ellis Neu, liebe Sonja Scherer, meine Damen und Herren!

Sich im "Institut für Deutsche Sprache" Gedanken auch über das visuelle Medium der sprachlichen Kommunikation, die Schrift, zu machen, ist naheliegend und sinnvoll. In der Tat ist das Bezugsfeld von Schrift und Sprache ungemein weit und komplex - es umfasst zahllose Verbindungslinien und Analogien, Berührungspunkte, aber auch Gegensätze. Darüber zu sprechen ergäbe Stoff für zahlreiche Vorträge, darüber zu schreiben für Berge von Büchern.

Dies gilt erst recht, wenn der Bezug zwischen Schrift und Bild, gar das Dreiecksverhältnis von Schrift, Bild und Sprache oder das Quartett Schrift, Bild, Sprache und Klang in den Blick genommen wird. Es kann nicht meine Aufgabe sein, hierüber ausführlicher zu sprechen, aber gestatten Sie dennoch, ausgehend vom Titel der Ausstellung - Schrift malen, Bilder schreiben - ein paar einleitende, eher aphoristische Bemerkungen zumindest zu einigen Teilaspekten dieses spannenden Themas.

Schrift hat grundsätzlich und immer Bildcharakter - wir sprechen ja zu Recht vom "Schriftbild" -, und die Ursprünge der Schrift liegen bekanntermaßen in der Entwicklung von Bildern, von einprägsamen Bildzeichen, mit denen sich, vergleichsweise einfach, Gegenstände, oder - dies dann schon wesentlich komplizierter - Empfindungen, Befindlichkeiten, Beziehungen, Handlungen, abstrakte Begriffe, bezeichnen und beschreiben lassen. Erst später, erst sekundär, werden Zeichen und ihre Kombinationen dann auch zur Übermittlung phonetischer Informationen verwendet. Immer aber ist der Bildcharakter der Schrift etwas, das sich nicht restlos in der Übermittlung einer übersetzbaren Botschaft erschöpft, das heißt: Die Signifikanz eines Zeichens beschränkt sich nicht auf seine Funktion, die bekanntermaßen im Verweis auf das Bezeichnete besteht.

Diese Mehrdimensionalität des Zeichens gewinnt vor allem im künstlerischen Kontext Bedeutung. Wenn Künstler - in unserem Fall Künstlerinnen wie Ellis Neu und Sonja Scherer - Schriftzeichen und Wortbilder verwenden, so rechnen sie in aller Regel mit dem Spannungsfeld, das sich auftut zwischen autonomer Form - das Schriftzeichen oder das geschriebene Wort als konstruktives oder gestisches Element - und seiner Lesbarkeit oder auch Nicht-Lesbarkeit. Aus beidem ergeben sich Assoziationsmöglichkeiten, die in die aktive Rezeption der Arbeit durch den Betrachter bestimmend einfließen.

Zeigen, zeichnen, bezeichnen, beschreiben, etwas abbilden, sich bilden, etwas ausbilden, sich etwas einbilden, Bild, Abbild, Urbild, Bildung: Unsere Sprache ist reich an Bildern, die mit Nachdruck auf die Nähe von Bild und Sprache verweisen. Was allerdings das Schreiben betrifft, so lässt sich das Wort, vom lateinischen scribere abzuleiten, etymologisch in Zusammenhang bringen mit scheren, schneiden und ritzen, was letztendlich "mit dem Griffel eingraben, einzeichnen" bedeutet, also einen höchst aktiven Vorgang, der einen Eingriff in Materie bezeichnet, eine irreversible Prägung, einen Akt der Zerstörung, und sei es nur den des unschuldig weißen Papiers, der dabei freilich Neues schafft, nur leider nicht immer Besseres ...

Schreiben und Zeichnen sind somit recht handgreifliche Verrichtungen, und anders als in der uns heute nur allzu geläufigen digitalen Welt handelt es sich hierbei nicht um Ereignisse im ausschließlich zweidimensionalen, womöglich virtuellen Bereich, sondern um Eingriffe, die im wörtlichen Sinn "unter die Haut" gehen - und damit sind wir bereits ganz nah bei den hier zu betrachtenden Arbeiten, die sich nicht einordnen lassen in die landläufigen Kategorien von entweder "zweidimensionaler" oder aber "dreidimensionaler" Kunst, sprich "Malerei" oder "Skulptur", sondern die ihre Kraft und Besonderheit in beiden Fällen gerade aus einer spezifischen Gratwanderung zwischen den genannten Bereichen beziehen.

Es gibt Sprachen, deren Organisation das gesprochene und das geschriebene Wort weitgehend zur Deckung bringt. Bei anderen hingegen ist der Abstand größer, bei wieder anderen wie z. B. dem Chinesischen hat sich der Bild- und Bedeutungscharakter des Wortzeichens unabhängig von der Sprache erhalten, was bedeutet: Das Zeichen als solches sagt nichts darüber aus, wie das ihm zuzuordnende Wort lautet. So gesehen, pflegte einer meiner Lehrer zu sagen, bei dem ich die Kunstgeschichte Ostasiens studiert habe, hätte Chinesisch die ideale Weltsprache werden können, freilich nur für Leser und Schreiber, nicht für Sprecher. Denn jeder könnte die Zeichen in seiner eigenen Sprache lesen und wiedergeben, die Kommunikation würde sich dabei allerdings auf die Schrift beschränken, man würde also gegebenenfalls von "Weltschrift", nicht aber von "Weltsprache" sprechen - oder besser, schreiben.

Ich will solche Gedankengänge jetzt nicht vertiefen, aber bleiben wir trotzdem noch kurz bei der Schrift der Chinesen, nicht zuletzt deswegen, weil sich aus ihr eine ganz eigene, in Ostasien hochgeschätzte Kunstgattung entwickelt hat, die wir hierzulande meist "Kalligraphie" nennen, was aber eher missverständlich ist, denn hier geht es nicht um "Schönschrift", sondern um eine elementare, zugleich höchst subjektive Erfassung und Interpretation des Sinns, der im jeweiligen Zeichen angelegt ist. Mit "Lesbarkeit" in unserem Verständnis hat dies eher wenig zu tun.

Die chinesische Schrift ist, wie gesagt, ursprünglich eine Bilderschrift und hat sich diesen Charakter, trotz weitgehender Abstraktion, im Prinzip bis heute bewahrt - Kenner der Materie werden mir nachsehen, dass ich den Sachverhalt vereinfache. Worauf ich aber hinaus will: Die chinesische Schrift, idealerweise mit einem speziellen Pinsel und spezieller Tusche auf spezielles Papier geschrieben, ist in ihrem Duktus und Charakter der chinesischen Tuschmalerei so eng verwandt, dass es im Prinzip keinen Unterschied ausmacht, ob ich etwa das Wort "Bambus" schreibe oder ob ich den Bambus male.

In diesem Sinne "schreibt" der chinesische Maler - zumindest gilt dies für den traditionellen - seine Bilder, und gleich oder später Texte ins Bild hineinzuschreiben, etwa ein Gedicht, ist nicht nur üblich, sondern sogar erwünscht und fügt diesem keinerlei Schaden zu, vorausgesetzt, der Schreiber ist ein kongenial Gebildeter, was aber in den entsprechenden kulturellen Kreisen zumindest früher als selbstverständlich angenommen werden konnte. Das Beispiel mag zeigen, wie groß der Unterschied zu unserer abendländischen Kunst ist, wo es zwar auch enge Verbindungen von Bild und Schrift gibt, denken Sie etwa an die kostbar illuminierten Handschriften des Mittelalters, wo aber zumindest seit der Renaissance, in der illusionistisch-zentralperspektivisch organisierten Komposition, allein schon eine unsensibel ins Bild gesetzte Signatur einen peinlichen Missgriff darstellen kann.

Erst als mit der Abkehr von der Zentralperspektive in der Kunst der Moderne das Bild primär wieder als Fläche verstanden wurde, ergab sich erneut die Möglichkeit, Schrift als ebenbürtigen Bestandteil neben anderen Elementen der Bildgestaltung in die Komposition zu integrieren - so geschehen erstmals bei den Kubisten, insbesondere in ihren Collagen, bei Picasso, Braque und Juan Gris sowie später bei den Dadaisten und Surrealisten, bei Schwitters und Ernst, schließlich auch bei den Pop-Artisten und ihren Nachfolgern.

Hieraus ergaben sich neue, spannende Möglichkeiten: Schrift konnte nun eingesetzt werden als einerseits gleichberechtigter Form-Baustein neben anderen, andererseits aber auch als Kontrastelement, denn Schrift bringt eben nicht nur ihre formalen Qualitäten ins Bild ein, sondern auch inhaltliche Bezüge, Konnotationen, die umso wirksamer den Betrachter aktivieren, je weniger ihr fragmentarischer Charakter dessen aufkommende Fragen abschließend beantwortet.

Im Surrealismus gewann dann freilich noch ein anderer Aspekt des Schreibens an Bedeutung, die sogenannte "écriture automatique": Das spontane Schreiben oder Kritzeln, realisiert, möglichst bevor der Verstand korrigierend und steuernd eingreift, wurde als Türöffner für neue, aus dem Unbewussten gespeiste Erfahrungen und Ausdrucksmöglichkeiten benutzt. Action Painting und Informel haben sich auf diese Theorie berufen und in der Praxis davon profitiert.

Denn es gibt ja ganz grundsätzlich zwei Möglichkeiten, "Schrift zu malen": Entweder ich male sie "objektiv" und so "schön" wie möglich - uns allen ist noch der "Schönschreibunterricht" alter Schule in bittere Erinnerung, ich zumindest habe ihn gehasst, und doch gibt es auch hier in nahezu unbegrenzter Zahl kreative Möglichkeiten innovativer, tatsächlich künstlerischer Schriftgestaltung - eine ganze Branche, nicht nur die der Werbegrafiker im engeren Sinne - lebt davon.

Oder aber, und dies vor allem: Da gibt es ja noch den individuellen Duktus, den Schrecken jedes Schönschreib-Lehrers, das Seismogramm ungefilterter Empfindungen, das sich mitteilt, auch wenn im landläufigen Sinne nichts mehr - oder noch nicht, oder überhaupt nicht - lesbar und verständlich ist - ein gefundenes Fressen für Psychologen und Graphologen. Hier aber sind wir nun endgültig bei der Kunst, und zwar ganz konkret bei den hier ausgestellten Arbeiten.

Natürlich wird man Vergleiche zwischen den beiden Künstlerinnen und ihren Arbeiten anstellen, und man wird feststellen, dass es da bemerkenswerte Gemeinsamkeiten und Unterschiede gibt:

Im Schaffen beider Künstlerinnen spielt das skriptorale Element eine wichtige Rolle. Bei Sonja Scherer, die an der Heidelberger Universität Kunstgeschichte und Germanistik studierte, bevor sie sich an der Pädagogischen Hochschule dem Studium für das Lehramt in Kunsterziehung zuwandte, wurde das Schreiben zum Ausgangspunkt einer künstlerischen "Handschrift" - der Begriff ist hier ganz wörtlich zu nehmen -, die nicht auf Lesbarkeit abhebt, wohl aber in Gestus und Rhythmus den Bildaufbau bestimmt - bis hin zu neuen und neuesten Arbeiten, in denen vom Ausgangspunkt Schrift fast nur noch die Zeilengliederung übrig geblieben ist.

Nebeneinander entstehen Arbeiten auf Leinwand und solche, die nicht nur auf, sondern aus Papier gefertigt sind, bei denen das Material weit mehr ist als lediglich Bildträger: Festes, kartonartiges Papier geht mit Farbmaterie unterschiedlicher Provenienz und Konsistenz eine enge Symbiose ein, palimpsestartig werden immer neue Mal-Materialien - Farbe, Lack, Beize, Graphit und Pigmente - übereinander geschichtet und durch unterschiedliche Auftragsweisen verdichtet und vertieft. Das so entstehende "Ge-Bilde" überschreitet mit seinen zeilenartigen Biegungen und Knicken und seiner vielschichtigen Stofflichkeit gleichsam nahtlos die Schwelle von der Malerei zum Relief, zur plastischen Arbeit, ohne dabei jedoch seine spezifisch malerischen Qualitäten aufzugeben: "Kostbarer Schimmer, seidiger oder metallischer Glanz (...), farbige Dichte wie auch ein leiser, sich wellenartig fortpflanzender Rhythmus", so hat es Ulrike Hauser-Suida in einem 1996 geschriebenen Text treffend charakterisiert.

Der objekthafte Charakter verstärkt sich noch bei jenen zweiteiligen Arbeiten, die an die Art erinnern, wie asiatische Lastenträger ihre Lasten, ausbalanciert an einem langen, elastisch wippenden Bambusstab, auf der Schulter tragen.

Nicht allein bei dieser Werkgruppe haben die intensiven, auf zahlreichen Reisen gewonnenen Eindrücke aus verschiedenen asiatischen Ländern Früchte gebracht. Sonja Scherer hat es auf beneidens- - oder vielleicht besser: nachahmenswerte - Weise verstanden, ihren Beruf und ihre Begabung als Kunsterzieherin mit Zeit und Freiheit für Reisen und künstlerische Arbeit zu verbinden.

In diesem Zusammenhang sind vor allem auch die in ihren schmalen Hochformaten an chinesische, koreanische und japanische Hängerollbilder erinnernden Arbeiten zum Thema "Teezeremonie" zu nennen, die einen Gegenpol zu den dunklen Faltreliefs bilden und in ihrer markanten, gleichsam bipolaren Gegenüberstellung von oben und unten, von Hell und Dunkel, Leichtigkeit und Schwere auf andere Weise als die Wasserträger-Installationen, aber nicht minder überzeugend, das bestimmende Prinzip ostasiatischen Denkens reflektieren, das harmonische Gleichgewicht gegensätzlicher Kräfte.

Nur eben angedeutete skriptorale Kürzel, durchaus verwandt den dynamischen Abbreviaturen ostasiatischer Schriftkunst, strukturieren ebenso sparsam wie lebendig das leuchtende Bildfeld über der dunklen Basis-Zone. Fast beiläufig, als einziges "gegenständliches" Motiv, deutet sich die Teeschale an - es könnte auch eine Reis- oder Klangschale sein.

Im Unterschied zu den Arbeiten von Sonja Scherer, bei denen lesbare Schrift allenfalls in den frühen Arbeiten eine Rolle spielt, und auch da nur als fragmentarisch erkennbares Aufblitzen eines Wortes oder Gedankens, können Textpassagen für Ellis Neu durchaus Ausgangspunkt oder Baustein einer Komposition sein, Momente der Kristallisation, Material nicht nur als Gestus oder als Duktus, sondern auch als Inhalt, als Fundstück, das dann mit anderen Fundstücken kombiniert wird.

Ellis Neu ist, von ihrer Ausbildung her, Linguistin. Sie hat Anglistik und Romanistik studiert und gelehrt, künstlerisch hat sie sich über das Stadium der Autodidaktin hinaus weitergebildet u.a. in Sommerkursen bei dem renommierten österreichischen Maler Josef Mikl. Als Nomadin ist sie unterwegs zwischen ihrem Alltag als Schulleiterin und den Stränden der Bretagne, der Welt der Bilder und Bücher, der Begeisterung für prähistorische, aber auch neue Kunst. Sätze, so sagt sie, springen sie an, zum Beispiel dieser: "Die Bärin und gegenüber der Bärin der Grenzstein des strahlenden Zeus" - was für ein Satz! Ich frage sie, woher er stammt. Sie weiß es nicht mehr - vielleicht Heraklit? "Abend um Abend", sagt sie, "schweben die den Gedanken entzogenen Botschaften ein".

Textfragmente, Gelesenes, notierte Gedanken, handschriftliche Kommentare können für Ellis Neu die gleiche Bedeutung haben wie kleine Holzstückchen, Steine, entdeckt und mitgenommen auf dem Weg nach Santiago de Compostela, Muscheln, ausgebleichtes Treibgut. Archaische Zeichen- und Schriftsysteme faszinieren sie, eine Initialzündung war für sie die Begegnung mit dem Schaffen der Inuit - da, wo deren Schaffen noch nicht zum "Airport-Kitsch" degeneriert war, sondern elementare Formen und in Stein und Knochen geritzte Zeichen hervorbrachte, Chiffren einer geheimnisvollen Mitteilung. Sie fühlt sich als Archäologin, weiß ihr Agieren der aktuellen "Spurensicherung" verwandt, begeistert sich für Künstler wie Boltanski, aber auch für Cy Twombly - womit in etwa das Spektrum ihres Schaffens umrissen wäre. "Geschriebenes, Gefundenes, Geformtes, Gefaltetes - geheimnisvoll wie Spuren im Schnee -", schreibt Susanne Himmelheber, auf ein Wort von Paul Klee anspielend, "wird hier zu einer neuen Ordnung parallel zur Natur".

Spuren im Schnee: Der Hinweis mag sich auch auf Ellis Neus Vorliebe für die Farbe Weiss beziehen, die Farbe, die nicht Abwesenheit von Farbigkeit bedeutet, sondern deren Summe im Licht. Licht und Klarheit, bewusst asketische Reduktion, um das Wesentliche zur Geltung zu bringen, darunter nicht zuletzt das feine Spiel der Schatten, kennzeichnet die neueren Arbeiten, die geprägt sind von einem faszinierenden Gleichgewicht aus spielerischer Freiheit und formaler Disziplin, aus Vielfalt und kluger Beschränkung.

Meine Damen und Herren, ich habe versucht, Ihnen ein paar Perspektiven des Zugangs zu den hier gezeigten Arbeiten aufzuzeigen, auch im Hinblick auf deren kunsthistorischen Hintergrund. Wichtig aber ist, dass Sie selbst Ihre Entdeckungen machen. Die Qualität eines Kunstwerks erweist sich nicht zuletzt darin, und ich formuliere damit einen hohen Anspruch, dass die Möglichkeiten, im Dialog mit ihm Neues zu entdecken, prinzipiell unerschöpflich sind.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

Heidelberg, im November 2006
Hans Gercke